Für Ärzte und Therapeuten

Fachtagung 

Zusammenfassungen der Vorträge der

4. Fachtagung des MVZ Institut für Mikroökologie

Am Samstag, den 7. Mai 2022 fand unsere 4. Fachtagung als Hybridkongress in Frankfurt am Main statt. Nachfolgend finden Sie die Zusammenfassungen der Vorträge. Eine Nachschau der Fachtagung finden Sie im Fachbereich. 

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Herzliche Grüße

Ihr Team des MVZ Institut für Mikroökologie

Dr. habil. Christoph Reinhardt ist Juniorprofessor am Centrum für Thrombose und Hämostase der Universitätsmedizin Mainz.

Die Rolle der Mikrobiota bei kardiovaskulären Erkrankungen

Ein Vortrag von Juniorprof. Dr. habil. Christoph Reinhardt

„Die Anzahl der kardiovaskulären Erkrankungen nimmt zu“, griff Dr. habil. Christoph Reinhardt die einleitenden Worte von Dr. Kerstin Rusch auf, „und das ist ein großes Problem“. Reinhardt ist Juniorprofessor am Center for Thrombosis and Hemostasis des University Medical Center Mainz. Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht er an keimfreien Mäusen, welche Rolle die Darm-Mikrobiota bei kardiovaskulären Erkrankungen spielt. 

Die Mäuse wachsen dafür in keimfreien Isolatoren auf und nehmen autoklaviertes Futter und Wasser zu sich. Besiedeln die Wissenschaftler die Mäuse anschließend mit definierten Bakterienkulturen, können sie deren Wirkung auf die Physiologie und die Entstehung von Krankheiten erforschen. 

Die Funktionen der Darm-Mikrobiota können nützlich, aber auch schädlich sein, betonte Reinhardt. Zum Beispiel ist die Darm-Mikrobiota wichtig, um unser Immunsystem voll auszubilden: Verschiedene Immunzelltypen in unserem Körper können nur dann richtig funktionieren, wenn sie mit Darmbakterien in Kontakt gekommen sind. Die Darm-Mikrobiota schließt außerdem unzugängliche Nährstoffe für uns auf und stellt wichtige Stoffwechselprodukte zur Verfügung.

Aber die Darm-Mikrobiota kann bei einer ungünstigen Zusammensetzung auch metabolische Entzündungen, Atherosklerose und die Bildung arterieller Thromben fördern. „Entzündungen im Fettgewebe und in der Leber werden im Wesentlichen durch die Mikrobiota getrieben“, verdeutlichte Reinhardt.

Wie Reinhardt mit seiner Arbeitsgruppe zeigen konnte, bilden sich verstärkt Kapillarnetzwerke im Dünndarm, sobald der Darm keimfreier Mäuse mit Bakterien in Kontakt kommt. Die gebildeten Netzwerke liegen sehr nah an den Epithelzellen. „Die Kapillarnetzwerke sind wichtig, um Nährstoffe aus dem Lumen aufnehmen zu können“, erläuterte Reinhardt.

Gleichzeitig können mikrobielle Bestandteile und Stoffwechselprodukte aber auch leichter in den Blutkreislauf übertreten. „Neben der Epithelbarriere gibt es auch die vaskuläre Barriere, die dafür sorgt, dass die Nährstoffe selektiv resorbiert werden“, erklärte Reinhardt das vielschichtige Schutzsystem des Körpers. Allerdings gelangt immer ein kleiner Anteil mikrobieller Bestandteile und Stoffwechselprodukte über den parazellulären Transport in den Blutkreislauf und kann Entzündungen auslösen.

Reinhardt und Kollegen haben in dem Zusammenhang keimfreie und besiedelte Mäuse verglichen und konnten zeigen: Die Mikrobiota kann die Adhäsion von Leukozyten an die Venolen in den mesenterialen Gefäßen und in der Aorta verstärken. Im schlimmsten Fall kommt es durch die Gefäßentzündung zu einer Atherosklerose.

Wie unterschiedlich der Einfluss der Darm-Mikrobiota sein kann, zeigen Untersuchungen an ApoE-defizienten Mäusen. ApoE-defiziente Mäuse entwickeln spontan und regelmäßig fortgeschrittene atherosklerotische Läsionen, die histologisch denen im Menschen gleichen.

Behandelten die Wissenschaftler normal ernährte ApoE-defiziente Mäuse mit Antibiotika, verstärkten sich die atherosklerotischen Läsionen. Demnach kann die Mikrobiota also durchaus vor einer Atherosklerose schützen.

Wurden die Tiere auf einer Cholin-reichen Diät gehalten, waren die atherosklerotischen Läsionen größer als unter Normaldiät. In dem Fall verringerten Antibiotika die atherosklerotischen Läsionen.

Wie genau bestimmte Darmbakterien die Entstehung der Atherosklerose fördern, ist am TMAO-Stoffwechselweg gut untersucht: Nehmen wir zum Beispiel Cholin, Carnitin oder Betain über die Nahrung auf, können Darmbakterien sie zu Trimethylamin (TMA) umsetzen. Cholin, Carnitin und Betain befinden sich in Fleisch, Fisch, Milch, Käse und Eiern. Die Darm-Schleimhaut resorbiert das bakteriell gebildete TMA und Leberenzyme oxidieren es zu Trimethylamin-N-oxid (TMAO). Erhöhte TMAO-Spiegel sind mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert - insbesondere Herzinfarkt und Schlaganfall.

Wie Reinhardt anhand einer Forschungsarbeit zeigte, verstärkt und beschleunigt Cholin die Entstehung von Schaumzellen - also von Makrophagen, bei denen sich eine große Menge Lipidtropfen im Zytoplasma angesammelt hat. Der Übergang von Makrophagen in Schaumzellen ist ein Schlüsselprozess in der Atherogenese.

Hemmten die Wissenschaftler ein Enzym des TMAO-Stoffwechselwegs, bildeten sich weniger Schaumzellen. „Damit ist die Darmflora als neues Target, ein drugable Target definiert worden“, wies Reinhardt auf die Bedeutung der Forschungsergebnisse hin. Atherosklerotische Läsionen und Schaumzellen in atherosklerotischen Plaques lassen sich so gezielt verringern.

In ihren Untersuchungen an keimfreien Mäusen konnten Reinhardt und Kollegen außerdem zeigen: Bei normaler Ernährung kann die Darm-Mikrobiota den Cholesterin-Spiegel senken. Die Wirkung geht auf zwei Mechanismen der Darm-Mikrobiota zurück: Zum einen fördert sie die Ausscheidung von Cholesterin, zum anderen kann sie primäre Gallensäuren in Cholsäure umwandeln, die leicht ausgeschieden werden kann. Das senkt insgesamt den Cholesterol-Spiegel im Körper.

Die Cholesterin-senkende Wirkung der Darm-Mikrobiota geht allerdings bei einer fettreichen Diät verloren.

Zum Abschluss seines Vortrags fasste Reinhardt zusammen: Die Mikrobiota im Darm erhöht die Vaskularisierung der Mukosa und erleichtert damit die Aufnahme von Nährstoffen. Allerdings gelangen dadurch auch mehr Bakterienbestandteile und bakterielle Stoffwechselprodukte in den Blutkreislauf - bis hin zur Leber. Das kann Entzündungsprozesse auslösen und die Thrombozytenfunktion sensitivieren. Bei einer Gefäßverletzung - wie es bei der Ruptur von atherosklerotischen Läsionen der Fall ist - kommt es zu einer erhöhten Adhäsion von Thrombozyten und einem verstärkten Thrombus-Wachstum. Insofern ist die Mikrobiota an der Entstehung einer Atherosklerose beteiligt und ein Risikofaktor bei arterieller Thrombose.

Wechselwirkungen von pflanzlichen Nahrungsmittelinhaltsstoffen und Darmbakterien

Ein Vortrag von Dr. Annett Braune

„Die zahlreichen Wechselwirkungen von Ernährung, Mikrobiom und Mensch sind ein sehr komplexes System“, stimmte Dr. Annett Braune ihre Zuhörer auf das Thema ein. Braune ist Leiterin der Forschungsgruppe Intestinale Mikrobiologie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke.

Nahrungsmittel können nicht nur direkt die Gesundheit beeinflussen, sie können auch indirekt über die Darm-Mikrobiota wirken: Die Inhaltsstoffe können die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota verändern und die Darm-Mikrobiota kann wiederum die Inhaltsstoffe zu zahlreichen Produkten umsetzen, die ebenfalls die Gesundheit des Menschen beeinflussen.

Die sekundären Pflanzen-Inhaltsstoffe stufte Braune in dem Zusammenhang als besonders interessant ein. Sie liefern zwar weder Energie wie die Kohlenhydrate, Proteine und Fette, noch sind sie essentiell für Stoffwechselfunktionen wie die Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Doch sie sind bioaktiv und können vielfältige Wirkungen im Menschen hervorrufen.

Zunächst fokussierte sich Braune auf Polyphenole – speziell die Flavonoide, die in Nahrungspflanzen weit verbreitet sind. Die Substanzen haben dort verschiedene Funktionen: Sie locken zum Beispiel als Blütenfarbstoffe Bestäuber an und bieten Schutz vor UV-Strahlung. Außerdem können sie Fressfeinde und Pilze abwehren und hormonell wirken - in der Pflanze wie im Menschen. 

Beim Menschen können Flavonoide in verschiedene Signaltransduktionswege eingreifen, indem sie Enzyme hemmen oder an Rezeptoren binden. So können sie Prozesse wie Proliferation, Entzündung, und Angiogenese positiv beeinflussen. „Aber natürlich - wie so oft - gibt es auch unerwünschte Wirkungen, was zum Teil abhängig ist von der vorliegenden Konzentration“, erläuterte Braune. Flavonoide können zum Beispiel auch prooxidativ und mutagen wirken und die Wirkung von Arzneimitteln verändern.

Die Polyphenole können im Dünndarm resorbiert werden und über das Blut die Leber erreichen. Dort werden sie biochemisch verändert; anschließend gelangen sie ins Gewebe oder werden über die Niere und den Urin ausgeschieden.

Über den enterohepatischen Kreislauf können sie aber auch zurück in den Darm gelangen. Dort können Darmbakterien sie zusammen mit den nicht resorbierten Polyphenolen abbauen. Besonders stark werden die Polyphenole im Dickdarm verstoffwechselt, da die Darmbakterien dort die höchste Dichte haben. Die entstandenen Stoffwechselprodukte können wieder resorbiert werden und über den Blutkreislauf das Gewebe erreichen.

Im Darm können Polyphenole die Anzahl der probiotischen Bakterien erhöhen und der pathogenen Bakterien verringern. Sie können Buttersäure-produzierende Bakterien fördern und die Resistenz der Darm-Mikrobiota gegenüber ungünstigen Einflüssen erhöhen.

Zusätzlich beeinflussen Polyphenole die Aktivität einzelner Darmbakterien. Das kann die Integrität des Epithels und die Produktion der Buttersäure erhöhen. „Und im Gegenzug können ungünstige Metaboliten wie sekundäre Gallensäuren oder auch Toxine in der Konzentration gesenkt werden“, so Braune.

Die Mikrobiota setzt die Polyphenole zu Stoffen um, die auch wieder die Zusammensetzung und Aktivität der Darm-Mikrobiota beeinflussen. Zusätzlich können sie direkt anti-inflammatorisch, anti-proliferativ oder apoptotisch wirken und die Darm-Barriere stärken. Entsprechend könnten die Stoffe zum Schutz vor Erkrankungen wie Krebs, kardiovaskulären Erkrankungen, Neurodegeneration, Adipositas und Typ-2-Diabetes beitragen.

„Ein wichtiger Aspekt sind aber auch die interindividuellen Unterschiede“, erklärte Braune in Bezug auf den bakteriellen Abbau der Pflanzeninhaltsstoffe. Wie sich die Menschen ernähren und bewegen und ob sie zum Beispiel Medikamente einnehmen, wirkt sich auf das Profil der gebildeten Stoffwechselprodukte aus. Aufgrund der erheblichen Unterschiede der Darm-Mikrobiota-Aktivitäten teilen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen deshalb Personen in mikrobielle Metabotypen ein.

Braune hat mit ihrer Forschungsgruppe an circa 20 Probandinnen und Probanden untersucht, inwiefern deren Darm-Mikrobiota ein bestimmtes Flavonoid - das Daidzein - umsetzen kann. Dafür haben die Forschenden Suspensionen von Stuhlproben der Probandinnen und Probanden mit dem Flavonoid inkubiert. Das Ergebnis: Die Mikrobiota einiger Probandinnen und Probanden konnte das Daidzein kaum oder gar nicht umsetzen. Bei manchen bildete die Darm-Mikrobiota Dihydrodaidzein, bei anderen Dihydrodaidzein und Equol und bei einer weiteren Gruppe relativ schnell Equol.

Derart starke Unterschiede im bakteriellen Stoffwechsel konnten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch für andere sekundäre Pflanzenstoffe zeigen. „Bestimmte Metaboliten werden nur in bestimmten Probanden gebildet. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Wirkungen der aufgenommenen Substanzen“, so Braune.

Nahrungspflanzen enthalten auch schwefelhaltige Stoffe, erklärte Braune: „Sulfolipide sind sehr weit verbreitet, denn sie kommen in der Chloroplasten-Membran aller grünen Pflanzen vor.“ Blattgemüse hat entsprechend hohe Sulfolipid-Konzentrationen, aber auch Cyanobakterien - die sogenannten Spirulina. Sie werden in Deutschland als Nahrungsergänzungsmittel angeboten, in manchen Ländern stehen sie ganz regulär auf dem Speiseplan.

Wie Braune mit ihrer Arbeitsgruppe herausgefunden haben, können Darmbakterien die Sulfolipide umsetzen und daraus Schwefelwasserstoff bilden. Als weitere Schwefel-Quellen, aus denen Darmbakterien Schwefelwasserstoff bilden können, nannte Braune:

  • die Aminosäure Cystein in Proteinen
  • die nicht-proteinogene Aminosäure Taurin
  • mit Taurin konjugierte Gallensäuren
  • Mucine der Mukus-Schicht

Auch die Darm-Epithelzellen selbst bilden Schwefelwasserstoff - vor allem aus Cystein - und Nahrungsmittel können direkt Schwefelwasserstoff enthalten.

In höheren Konzentrationen wirkt Schwefelwasserstoff pro-inflammatorisch, kann die Mukus-Schicht schädigen und das Bakterienwachstum hemmen. In geringer Konzentration ist Schwefelwasserstoff dagegen essentiell für Regulationsprozesse im Darm: Das Gas wirkt dann eher anti-entzündlich, stimuliert die Mukus-Bildung und stabilisiert die Mikrobiota.

An der Schwefelwasserstoff-Bildung sind in erster Linie Cystein-abbauende Bakterien wie Escherichia coli beteiligt. Es gibt aber auch Sulfitreduzenten. „Dazu gehört ein sehr interessantes Bakterium mit dem Namen Bilophila wadsworthia“, so Braune. Das Bakterium ist Bestandteil der normalen Darm-Mikrobiota und bei 60 Prozent der Menschen mit circa 105 Zellen pro Gramm Stuhl vertreten.

Bilophila wadsworthia ist ein Gram-negatives Stäbchen, bildet keine Sporen und kann nur in Abwesenheit von Sauerstoff wachsen. Gallensäuren wirken stimulierend auf das Bakterium, worauf bereits der Name Bilophila - Galle liebend - hinweist. Bilophila wadsworthia nutzt zum Beispiel die Gallensäure Taurocholat als Substrat. Aus dem Taurin bildet es Sulfit und schließlich Schwefelwasserstoff.

„Bilophila wadsworthia ist ein sogenannter Pathobiont, das heißt, dieses Bakterium kann unter bestimmten Umständen pathogene Wirkungen aufweisen“, so Braune. Ursprünglich wurde das Bakterium aus Patienten mit intra-abdominalen Infektionen isoliert, zum Beispiel aus Proben von Patienten mit Blinddarmentzündung.

Studien zeigen laut Braune inzwischen auch: Das Bakterium fördert im Colitis-Mausmodell Entzündungen - sogar systemische Entzündungen konnten Wissenschaftler beobachten. Erhöhte Zellzahlen des Bakteriums treten bei kolorektalen Krebserkrankungen auf und verstärken metabolische Fehlfunktionen bei Mäusen, die fettreich gefüttert wurden.  

Bei entsprechender Ernährung nehmen wir eine große Bandbreite sekundärer Pflanzenstoffe zu uns, die am Ende vielfältig wirken. Dazwischen gibt es jedoch noch viele Fragen zu beantworten, so Braune: „Werden diese Substanzen metabolisiert? Inwiefern spielen die interindividuellen Unterschiede eine Rolle? Und wie steht es mit der Bioverfügbarkeit?“

Braune forscht mit ihrer Arbeitsgruppe derzeit weiter an den Wechselwirkungen zwischen sekundären Pflanzenstoffen und Darmbakterien. Auch die Wirkmechanismen hinter den beobachteten Effekten der sekundären Pflanzenstoffe sieht Braune als äußerst interessant an.

Trotz der offenen Fragen beendete Braune ihren Vortrag mit dem Plädoyer an ihre Zuhörer, sich vielfältig zu ernähren, basierend auf Gemüse, Obst und anderen pflanzlichen Nahrungsmitteln, um die Darmbakterien tatsächlich glücklich zu machen.

Dr. Annett Braune ist Leiterin der Forschungsgruppe Intestinale Mikrobiologie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke.

Darmmikrobiota: Ansatzpunkt gegen kardiometabolische Erkrankungen

Ein Vortrag von Prof. Dr. Andreas Schwiertz

„60 Prozent der Deutschen sind übergewichtig, laut WHO wird im Jahre 2025 jeder vierte Mensch weltweit eine chronische Erkrankung haben“, wies Prof. Dr. Andreas Schwiertz auf das Ausmaß der Personen hin, die von kardiometabolischen Erkrankungen betroffen sein können.

Schwiertz ist Professor am Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Gießen, stellvertretender Geschäftsführer und Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung am Institut für Mikroökologie in Herborn. Neuesten Forschungsergebnissen zufolge ist die Darm-Mikrobiota an der Entstehung kardiometabolischer Erkrankungen beteiligt.

An Daten des nordamerikanischen Center for Disease Control and Prevention verdeutlichte Schwiertz die alarmierende Entwicklung in den USA von 1994 bis 2015: 1994 lag der Anteil der Adipösen in allen Bundesstaaten unter 25 Prozent, zwanzig Jahre später waren in jedem Bundesland mindestens 30 Prozent der Bewohner adipös – und mindestens 10 Prozent hatten Typ-2-Diabetes entwickelt. „Was ist in den 20 Jahren passiert? Womit erklären wir diese Epidemie an Übergewichtigen und Diabetikern?“, fragte Schwiertz ins Auditorium. Fastfood dafür verantwortlich zu machen, hält er für zu kurz gesprungen, da es 1994 in den USA bereits weit verbreitet war.

Als bekannte Ursache nannte Schwiertz eine positive Energiebilanz, die auch durch einen Mangel an Bewegung entsteht. „Der Mensch ist dafür evolutionär nicht gebaut worden“, kommentierte Schwiertz unseren inaktiven Lebensstil. Außerdem übertragen Eltern ungünstige Ernährungsmuster auf ihre Kinder und wir sind Werbung ausgesetzt, die permanent Hunger suggeriert. Aber auch die Genetik, hormonelle Dysbalancen und die Medikation spielen bei der Entstehung von Übergewicht eine Rolle.

In den letzten 20 Jahren ist noch ein weiterer Spieler bekannt geworden, der die Adipositas-Epidemie vorantreibt: die Mikrobiota in unserem Darm. Unter dem Titel „Mast durch Mikroben“ machte DER SPIEGEL bereits 2006 die Darm-Mikrobiota für unser Übergewicht verantwortlich. Heute greifen Fach-Zeitschriften wie Diabetes Aktuell und Diabetologie und Stoffwechsel das Thema auf.

„Es gibt zwei große Theorien dahinter. Das ist einmal die sogenannte Energy Harvest Theory“, so Schwiertz, „das heißt: Die Bakterien, die wir haben, verdauen die Nahrungsbestandteile ein bisschen besser und durch deren Stoffwechselendprodukte, hauptsächlich kurzkettige Fettsäuren die noch Energie enthalten, bekommen wir noch ein bisschen mehr Energie in den Körper.“ Etwa 300 Kilokalorien können wir so täglich dazubekommen, das entspricht in etwa einem Marsriegel. Wie Bakterien zur Energiegewinnung beitragen können, verdeutlichte Schwiertz am Beispiel der Kuh: Sie selbst kann das gefressene Gras nur zerkleinern, aber nicht verdauen; es sind die Bakterien im Pansen, die die Zellulose zu kurzkettigen Fettsäuren abbauen und die Kuh so mit Energie versorgen.

Um zu untersuchen, ob Bakterien wirklich eine Rolle bei Übergewicht spielen, übertrugen nordamerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler damals in ersten Experimenten Bakterien von dicken auf dünne Mäuse. Daraufhin wurden die dünnen Mäuse tatsächlich dicker. Anschließend sahen sich die Forschenden die großen bakteriellen Stämme im Darm der Mäuse genauer an und stellten fest: Die dicken Mäuse hatten mehr Bakterien aus dem Stamm Firmicutes als die dünnen Mäuse - jeweils im Verhältnis zu den Bakterien aus dem Stamm Bacteroidetes.

Aus dieser Untersuchung ergab sich die Schlussfolgerung, auf die sich der zitierte Spiegel-Artikel bezog: Ist das Verhältnis von Firmicutes zu Bacteroidetes im Darm erhöht, werden die Betroffenen dick. Auch eine anschließende Human-Studie schien das Ergebnis zu stützen. Allerdings umfasste die Studie lediglich zehn adipöse Probanden und zwei Kontrollpersonen.

Interessiert an den vielversprechenden Ergebnissen, initiierte auch das Institut für Mikroökologie eine Studie, in Zusammenarbeit mit der Adipositas-Sprechstunde der Universität Gießen. Mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern untersuchte Schwiertz die Firmicutes-Bacteroidetes-Ratio bei Adipösen, Übergewichtigen und Normalgewichtigen – und fand das genaue Gegenteil: Bei Übergewichtigen und Adipösen waren die Bacteroidetes-Bakterien erhöht. Laut Schwiertz war es zuerst nicht einfach, die Ergebnisse zu publizieren. Doch heute widersprechen die meisten veröffentlichten Artikel der Hypothese zur Firmicutes-Bacteroidetes-Ratio.

Die nordamerikanische Arbeitsgruppe hatte damals auch die kurzkettigen Fettsäuren untersucht, die die Bakterien in den Mäusen produzieren, und die Forschenden hatten Auffälligkeiten gesehen. „Die dicken Mäuse hatten signifikant mehr Essigsäure produzierende Bakterien und Essigsäure geht über die Leber in die Lipogenese und die Glukoneogenese ein“, erläuterte Schwiertz.

Auch das Institut konnte in seinem damaligen Studien-Setting zeigen: Je dicker der Patient, desto mehr kurzkettige Fettsäuren bildeten seine Darmbakterien. Der Artikel zur Studie ist mittlerweile der am dritthäufigsten zitierte Artikel aus dem Bereich Ernährungsforschung in Deutschland. „Die Take-Home-Message für Sie ist: Wir ernähren uns falsch und dadurch fördern wir die falschen Bakterien“, fasste Schwiertz zusammen.

Zusätzlich können die Darmbakterien Stoffe bilden, die Typ-2-Diabetes direkt begünstigen. Dabei handelt es sich um die verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin – abgekürzt BCAA für Branched Chain Amino Acids. Die Stoffe, die auch in der Nahrung vorkommen können, fördern die Entwicklung einer Insulinresistenz und dienen den Adipocyten als Nährstoff und Energiequelle. „Die Prä-adipozytäre Zelle bevorzugt verzweigtkettige Aminosäuren, bevor sie an die Glukose herangeht“, erläuterte Schwiertz.

Wie viele Studien mittlerweile zeigen, haben Patienten mit Übergewicht und beginnendem Typ-2-Diabetes mehr verzweigtkettige Aminosäuren im Blut. Forschende haben zum Beispiel in einer vor drei Jahren veröffentlichten Studie Typ-2-Diabetiker und -Diabetikerinnen mit Gesunden verglichen. Das Ergebnis: Die Personen der Gruppe mit Typ-2-Diabetes hatten nicht nur signifikant höhere HbA1c-Werte, sondern auch signifikant mehr verzweigtkettige Aminosäuren im Blut. Das bakterielle Lipopolysaccharid – kurz LPS – korrelierte mit den verzweigtkettigen Aminosäuren und war ebenfalls signifikant erhöht. LPS ist Bestandteil der Zellwand gram-negativer Bakterien und kann zu einer stillen Entzündungsreaktion führen, wenn es ins Blut gelangt.

Vor allem ein LPS-tragendes Bakterium ist für die Bildung verzweigtkettiger Aminosäuren im Darm verantwortlich. „Und dieses Bakterium, Prevotella copri, finden Sie ebenfalls erhöht bei Diabetikern“, so Schwiertz.  

Die verzweigtkettigen Aminosäuren liefern neben den kurzkettigen Fettsäuren ein zweites Erklärungsmuster für die Energy Harvest Theorie, da sie die Prä-Adipozyten mästen.

Prevotella copri als Marker für die Bildung der verzweigtkettigen Aminosäuren und auch die kurzkettigen Fettsäuren lassen sich im Stuhl messen. Zu den kurzkettigen Fettsäuren gehören die Essigsäure, die Propionsäure und die Buttersäure. Essigsäure und Propionsäure sind Gegenspieler: Die Essigsäure fördert den Hunger und die Propionsäure die Sättigung. Die Buttersäure als Nährstoff- und Energiequelle der Darmepithelzellen gewährleistet ein intaktes Epithel, das das Eindringen von LPS und anderen entzündungsfördernden Stoffen verhindert.

Die zweite Theorie, warum Bakterien bei Übergewicht und Adipositas eine Rolle spielen, ist die Inflammatory Theory – die Entzündungs-Theorie. Demnach können Darm-Bakterien oder ihre Membranbruchstücke eine permanente stille Entzündung in unserem Körper auslösen, wenn sie die Darmbarriere passieren.

Schwiertz verwies an dieser Stelle auf den Vortrag von Dr. Anette Braune, die bereits auf die Bedeutung von Schwefelwasserstoff bei der Entstehung von Entzündungen im Darm eingegangen war. Wie Braune erklärt hatte, wirkt sich Schwefelwasserstoff in geringen Mengen positiv aus. „Aber Schwefelwasserstoff hat die Eigenschaft, die Mukus-Schicht kaputt zu machen, wenn sehr viel davon im System ist“, erläuterte Schwiertz. Wird die Mukus-Schicht in der Folge immer dünner, können Noxen und Bakterien leichter ans Epithel gelangen – und bis in die Bindegewebs-Schicht vordringen, wenn das Epithel hyperpermeabel ist. 
Fehlt den Becherzellen in der Schleimhaut die Energie, um ausreichend Mukus zu produzieren, kann die Mukus-Schicht ebenfalls ausdünnen.

Da sich die Mukusdicke nur in der Biopsie direkt bestimmen lässt, sind Surrogat-Marker für den nicht-invasiven Nachweis notwendig. Dafür eignen sich zum einen die Buttersäure und die Buttersäure-bildenden Darm-Bakterien: Über sie lässt sich bestimmen, ob die Schleimhaut über genügend Energie verfügt, um ausreichend Mukus zu produzieren. Zum anderen lässt sich über den Schwefelwasserstoff-Produzenten Bilophila wadsworthia abschätzen, wie stark der bestehende Mukus angegriffen wird. 
Bilophila wadsworthia als LPS-Träger und Schwefelwasserstoff-Bildner wächst vor allem dann, wenn wir viel tierische Fette zu uns nehmen. Um die Fette zu emulgieren, scheidet unser Körper Gallensäuren in den Darm aus, von denen Bilophila wadsworthia lebt. Entsprechend bedeutet „Bilophila“ „Gallensäuren-liebend“. Der zweite Teil des Namens ist weniger selbsterklärend, wie Schwiertz erläuterte: „Das Wadsworth Medical Center ist ein Institut in den Vereinigten Staaten, an dem dieses Bakterium zum ersten Mal isoliert worden ist.“

Wie stark eine Animal Based Diet - also eine fettreiche Ernährung auf Basis tierischer Lebensmittel – Entzündungen fördert, zeigt das Beispiel Schottlands eindrucksvoll. „Die höchsten Raten an Colon-Karzinomen und entzündlichen Darmerkrankungen in Europa haben Sie in Schottland“, erläuterte Schwiertz. Das lässt sich direkt mit der Ernährung korrelieren, denn die schottische Bevölkerung isst im Allgemeinen sehr fett- und proteinreich. 
Die niedrigsten Colon-Karzinom- und Entzündungsraten gibt es dagegen im mediterranen Raum. Die mediterrane Diät gilt entsprechend als gesundheitsfördernd.

Eine Animal Based Diet erhöht neben der Schwefelwasserstoff-Bildung auch die Zellzahlen der LPS-tragenden Bakterien im Darm, da es sich bei den proteinabbauenden Bakterien meist um LPS-Träger handelt. Die LPS-tragenden Bakterien können pro-inflammatorisch wirken.
Beim bakteriellen Proteinabbau entstehen außerdem Indole, Skatole, Ammoniak-Verbindungen und andere Stoffe, die potenziell karzinogen und pro-inflammatorisch wirken. Da die iso-Fettsäuren beim gleichen bakteriellen Stoffwechselprozess entstehen und mit dem Stuhl ausgeschieden werden, eignen sie sich als Surrogat-Marker für die Bildung der potenziell karzinogenen und pro-inflammatorischen Stoffe.

Der Nachweis von Bilophila wadsworthia, LPS-tragenden Bakterien, iso-Fettsäuren, Buttersäure und Buttersäure-bildenden Bakterien im Stuhl bedient die Entzündungstheorie.

Für die Entstehung der Arteriosklerose spielen die Buttersäure und die LPS-tragenden Bakterien ebenfalls eine Rolle, aber es kommt noch ein weiteres Risiko aus dem Darm hinzu: Bakterien, die aus Cholin, Carnitin und Lecithin in der Nahrung Trimethylamin (TMA) bilden. TMA ist ein Gas, das gut resorbiert und von Leberenzymen rasch zu Trimethylamin-N-oxid (TMAO) oxidiert wird. Erhöhte TMAO-Spiegel sind mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert - insbesondere Herzinfarkt und Schlaganfall. 
Für genauere Informationen verwies Schwiertz auf den Vortrag von Juniorprofessor Dr. Christoph Reinhardt.

Im Darm sind verschiedene Bakterien in der Lage, TMA zu produzieren. „Was man aber nutzen kann, ist der Nachweis der Enzyme, die dieses TMA produzieren. Und das funktioniert über eine ganze Bandbreite von Bakterien“, so Schwiertz.

Basierend auf den vorgestellten Grundlagenforschungen hat Schwiertz mit seinen Kolleginnen und Kollegen die neue CardioHeparMetabolic(CHM)-Diagnostik entwickelt. „Mit dem CardioHeparMetabolic sind wir in der Lage, das Darm-assoziierte Risiko für Arteriosklerose, Fettleber und Typ-2-Diabetes aus einer Stuhlprobe abzulesen“, erläuterte Schwiertz.

Die neue CardioHeparMetabolic-Diagnostik erfasst, zum Teil mit molekularbiologischen Methoden wie der quantitativen PCR:

  • iso-Fettsäuren
  • kurzkettige Fettsäuren
  • LPS-tragende Mikrobiota
  • Bilophila wadsworthia
  • Prevotella copri
  • TMA-Produzenten

Der CardioHeparMetabolic ist ein Additiv zur bestehenden KyberBiom®-Diagnostik und ist nur in Verbindung mit dieser aussagekräftig.

Gedacht ist die CHM-KyberBiom®-Diagnostik laut Schwiertz für Patientinnen und Patienten mit:

  • Übergewicht oder Adipositas
  • pathologischer Glukosetoleranz
  • metabolischem Syndrom
  • Risikofaktoren für Arteriosklerose
  • Fettleber
  • nicht erklärbaren erhöhten Leberwerten im Check-Up

Schwiertz stellte einen KyberBiom®-CHM-Befund vor und erklärte dazu: „Bei 60 Prozent der Bevölkerung finden Sie zum Beispiel Bilophila mit einer Zellzahl von 105, das ist auch kein Problem.“ Bei Zellzahlen über 107 gelte es dagegen, genauer hinzusehen.

Um die angegebenen Zahlen greifbarer zu machen, haben Schwiertz und sein Team auf Basis der gemessenen Bakterien und bakteriellen Stoffwechselprodukte einen Algorithmus entwickelt, der das jeweilige Darm-assoziierte Risiko in einem Ampelsystem ausweist. In die Berechnung fließt der Body-Mass-Index mit ein, weshalb Größe, Gewicht, Alter und Geschlecht der Patientinnen und Patienten mit angegeben werden müssen.

Dem grafisch aufbereiteten Befund liegt eine ausführliche Befund-Erläuterung bei. Zusätzlich bietet das Institut für Mikroökologie umfangreiche Ernährungs- und Therapieempfehlungen an. „Uns ist klar, dass es viel ist. Sie müssen nicht alles umsetzen, aber Sie bekommen eine Richtung, in die Sie mit Ihrem Patienten oder Ihrer Patientin gehen können“, erläuterte Schwiertz die Hilfestellung.

Darm-Hirn-Achse: Der Darm im Fokus neurodegenerativer Erkrankungen

Ein Vortrag von Dr. Malena dos Santos Guilherme

„Die Ursachen für die Alzheimer-Demenz sind trotz intensiver Forschung nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt“, betonte Dr. Malena dos Santos Guilherme auf der diesjährigen Fachtagung des Instituts für Mikroökologie in Frankfurt. Dos Santos Guilherme ist seit diesem Jahr am Institut für Mikroökologie tätig. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz erforschte sie, welche Rolle die Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse bei der Pathogenese der Alzheimer-Demenz spielt. Vorangegangene Studien, an denen auch das Institut für Mikroökologie beteiligt war, hatten bereits die Bedeutung der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse für die Pathogenese von Morbus Parkinson gezeigt.

Dos Santos Guilherme ging in ihrer Forschungsarbeit folgenden Fragen nach:

  • Hat Amyloid-beta, das Hauptmerkmal der Alzheimer-Demenz, einen Einfluss auf die Darmbakterien?
  • Verändert sich die Pathogenese der Alzheimer-Demenz, wenn das Mikrobiom über Antibiotika oder einen fäkalen Mikrobiom-Transfer modifiziert wird?
  • Wie wirkt sich die Alzheimer-Demenz auf die Physiologie des Darms aus?

Wie sehr diese und ähnliche Fragen drängen, verdeutlichte dos Santos Guilherme mit Hilfe einschlägiger Zahlen: „Im Jahr 2018 hatten wir 50 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankten und diese Zahl wird sich Schätzungen zufolge bis ins Jahr 2050 verdreifachen.“ In Deutschland litten im Jahr 2021 laut dos Santos Guilherme 1,6 Millionen Menschen an Demenz. Kurative Therapien gibt es bislang nicht und der Kostenaufwand der derzeitigen Behandlungsoptionen ist enorm.

Unter den neurodegenerativen Erkrankungen ist die Alzheimer-Demenz am häufigsten. Sie tritt in zwei verschiedenen Formen auf: Die familiäre Form macht nur etwa ein Prozent der Fälle aus und geht auf genetische Mutationen zurück; im Durchschnitt erkranken die Betroffenen mit 56 Jahren (Early Onset). Die meisten Alzheimer-Demenzerkrankungen sind allerdings von der sporadischen Form, bei der genetische Risikofaktoren, Lifestyle-Faktoren und die physische und mentale Aktivität eine Rolle spielen. Durchschnittlich manifestiert sich die Erkrankung mit 74 Jahren (Late Onset), aber bereits ab 65 Jahren steigt das Risiko drastisch an.

Ein grundlegender Mechanismus der Alzheimer-Pathogenese steht laut dos Santos Guilherme relativ sicher fest: Der Stoffwechsel bildet vermehrt das Protein Amyloid-beta, das aggregiert und sich im Gehirn der Alzheimerpatientinnen und -patienten ablagert – mit gravierenden Folgen für deren kognitive Fähigkeiten. Ob eine Person an Alzheimer erkrankt, entscheidet sich am Amyloid-Vorläufer-Protein: Der Stoffwechsel gesunder Menschen setzt das Protein in erster Linie in einen neuroprotektiven Stoff um. Bei Alzheimer-Betroffenen entsteht dagegen vermehrt das aggregierende Amyloid-beta.  

Dos Santos Guilherme und ihre Kolleginnen und Kollegen konnten Amyloid-beta auch im Darm von Alzheimer-Demenz-Modellmäusen nachweisen, die typischen Amyloid-beta-Ablagerungen befinden sich demnach nicht nur im Gehirn. „Natürlich sprechen wir hier von einem Modell-Organismus, das heißt, die Ergebnisse dienen als erste Hinweise, sind aber natürlich nicht eins zu eins in den Menschen übertragbar“, wies dos Santos Guilherme auf die Einschränkungen bei Mausmodellen hin. Allerdings können manche Fragestellungen aus ethischen Gründen nicht direkt am Menschen untersucht werden und Mausmodelle beschleunigen die Forschung enorm: Die Demenz entwickelt sich bei Mäusen innerhalb von Wochen. „Das Modell, das wir verwendet haben, ist ein relativ aggressives Modell. Das heißt, ab acht Wochen können pathologische Veränderungen im Hirn gefunden werden“, so dos Santos Guilherme. Bei 21 Wochen alten Mäusen liegt bereits ein mittleres und bei 40 Wochen ein sehr schweres Stadium der Alzheimer-Demenz vor.

In ihren Versuchen nahm dos Santos Guilherme das Zusammenspiel zwischen Amyloid-beta und der Darm-Mikrobiota unter die Lupe. Dafür inkubierte sie die Mikrobiota von Alzheimer-Demenz-Mäusen mit dem Protein, gesunde Mäuse dienten als Kontrolle. Das Ergebnis überraschte die Wissenschaftlerin: Amyloid-beta verringerte die Lebensfähigkeit der Mikrobiota von gesunden Mäusen signifikant. Der Mikrobiota von Alzheimer-Demenz-Mäusen konnte Amyloid-beta dagegen nichts anhaben. Die Mikrobiota hatte sich anscheinend bereits an die Amyloid-beta-Exposition angepasst.

Ob sich die Zusammensetzung der intestinalen Mikrobiota auch auf die Bildung von Amyloid-beta auswirken kann, überprüfte dos Santos Guilherme, indem sie den Alzheimer-Demenz-Mäusen 14 Wochen lang einen aggressiven Antibiotika-Cocktail verabreichte. Als sie die Mäuse daraufhin untersuchte, fand sie signifikant weniger Amyloid-beta-Ablagerungen im Bereich des Hippocampus der Mäuse. Der für Kognition und Lernen zuständige Hippocampus ist bei der Alzheimer-Demenz besonders stark betroffen.
Auch das Nestbauverhalten der Mäuse veränderte sich unter der Antibiotika-Behandlung. „Beim Nesting schaut man bei den Mäusen nach dem Daily Living, da Alzheimer-Demenzpatienten bei Aufgaben im täglichen Ablauf wie Uhrablesen und Schuhebinden eingeschränkt sind. Und bei den Mäusen ist der tägliche Ablauf, ein Nest zu bauen“, erläuterte dos Santos Guilherme die Beobachtungen. Die Mäuse, die mit Antibiotika behandelt worden waren, konnten im Ergebnis mehr Material verarbeiten und deutlich bessere Nester bauen. 
Bestimmte Bakterien der Darm-Mikrobiota scheinen demnach zur Bildung von Amyloid-beta beizutragen. Zukünftige Forschungsarbeiten müssen aber erst noch aufdecken, um welche Bakterienarten es sich dabei handelt.

Die Arbeitsgruppe übertrug zusätzlich das Mikrobiom aus gesunden jungen und alten Mäusen über eine Gavage in den Magen der Alzheimer-Modell-Mäuse. Anschließend analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Mikrobiota-Zusammensetzung – gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Schwiertz vom Institut für Mikroökologie – und überprüften, wie sich die Darm-Morphologie, bestimmte bakterielle Marker im Blut und die Amyloid-beta-Ablagerungen im Gehirn veränderten.

Im Ergebnis ließen sich nicht nur die unterschiedlichen Mikrobiota-Zusammensetzungen der jungen und der alten Mäusen auf die Alzheimer-Demenz-Mäuse übertragen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten auch Veränderungen in der Darm-Morphologie nachweisen, wenn die Alzheimer-Demenz-Mäuse das Mikrobiom alter Mäuse erhalten hatten: Die Villuslänge, die Darmschleimhaut-Dicke, die Submukosa-Dicke und die Muskelschichtdicke hatten zugenommen. Dos Santos Guilherme verwies an dieser Stelle auf den Vortrag von Juniorprof. Dr. Christoph Reinhardt, der ähnliche Forschungsergebnisse vorgestellt hatte. Zusätzlich stieg die Konzentration des LPS-Binding-Proteins im Serum der Alzheimer-Demenz-Mäuse an, die das Mikrobiom alter Mäuse übertragen bekommen hatten. Die Konzentration des Proteins ist umso höher, je mehr bakterielles Lipopolysaccharid (LPS) aus dem Darm ins Blut gelangt. Die Darm-Barriere ist demnach bei den alten Mäusen durchlässiger – eine Eigenschaft, die sich offensichtlich ebenfalls mit dem Mikrobiom übertragen ließ. „Das Mikrobiom von alten Spendertieren führte in den Alzheimer-Demenz-Mäusen auch zu einem Anstieg der Amyloid-beta-Ablagerungen im präfrontalen Kortex und im Dentate gyrus“, betonte dos Santos Guilherme.

Dos Santos Guilherme verglich zusätzlich die Darm-Transitzeit von Alzheimer-Demenz-Mäusen mit der gesunder Mäuse und konnte zeigen: Bei den Alzheimer-Demenz-Mäusen war die Darm-Transitzeit verkürzt, die Darm-Motilität also gesteigert. Ersten Hinweisen zufolge könnte ein gestörter dopaminerger Stoffwechsel im enterischen Nervensystem dafür verantwortlich sein. Weitere Untersuchungen sind allerdings noch notwendig, um diesen Hinweisen im Detail nachzugehen.

Wie dos Santos Guilherme gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen eindrücklich zeigen konnte, ist die Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse an der Pathogenese der Alzheimer-Demenz beteiligt. Für die Parkinson-Demenz, die in der klinischen Ausprägung und den Patho-Mechanismen mit der Alzheimer-Demenz verwandt ist, konnte die Bedeutung der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse bereits in früheren Studien nachgewiesen werden. Vergleichbar zum Amyloid-beta bei der Alzheimer-Demenz bilden sich bei der Parkinson-Demenz Aggregate des Alpha-Synucleins, die sich in den Lewy-Körperchen im Gehirn der Patientinnen und -patienten ablagern. Das alpha-Synuclein kann sogar vom Darm über den Vagus-Nerv ins Gehirn gelangen. „Die Patienten zeigen Symptome wie Rigor, Tremor oder Akinese, aber leiden auch schon viele, viele Jahre vor der klinischen Manifestation der Symptome an gastrointestinalen Störungen“, so dos Santos Guilherme. Im Rahmen ihres Vortrags stellte sie auch Forschungsergebnisse vor, an denen Prof. Dr. Andreas Schwiertz mit dem Institut für Mikroökologie beteiligt war.

Schwiertz hatte mit seinen Kolleginnen und Kollegen Stuhlproben von Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten untersucht und mit gesunden Kontrollen verglichen. Dabei konnte er zeigen: Die Marker für eine gestörte Darm-Barriere – Alpha-1-Antitrypsin und Zonulin – waren bei Parkinson-Erkrankten erhöht, ebenso wie die Werte des Entzündungsmarkers Calprotectin.
„Calprotectin ist zum Beispiel ganz charakteristisch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn erhöht. Das heißt, wir haben eindeutige Entzündungsprozesse im Darm vorliegen“, so dos Santos Guilherme. Zudem untersuchte Schwiertz die mikrobielle Zusammensetzung in den Proben und fand auch hier signifikante Unterschiede zwischen Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten und gesunden Kontrollen. Die Zellzahlen von Bacteroidetes und Prevotellaceae waren zum Beispiel erniedrigt und die Zellzahlen der Enterobacteriaceae erhöht. Gleichzeitig hatten die Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten eine geringere Konzentration an kurzzeitigen Fettsäuren im Darm. Dos Santos Guilherme verwies an dieser Stelle auf den Vortrag von Prof. Dr. Andreas Schwiertz, der genauer auf die Bedeutung der kurzkettigen Fettsäuren für die Darm-Gesundheit einging.

Auf die vielversprechenden Ergebnisse zur Mikrobiota und den kurzkettigen Fettsäuren hin entstand eine Zusammenarbeit mit der Michael-J.-Fox-Foundation, in deren Rahmen eine Interventions-Studie mit resistenter Stärke bei Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten durchgeführt wurde. Das Darmbakterium Faecalibacterium prausnitzii kann aus resistenter Stärke Buttersäure bilden, die einer gestörten Darm-Barriere und inflammatorischen Prozessen im Darm entgegenwirkt. „Und genau das konnte auch gezeigt werden, das heißt die Konzentrationen von Alpha-1-Antitrypsin, Zonulin und auch von Calprotectin haben sich normalisiert“, so dos Santos Guilherme. Den Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten ging es daraufhin insgesamt besser.

„Zukünftig können wir prä- und probiotische Interventionen als Behandlungsoptionen zurate ziehen“, zeigte dos Santos Guilherme sich zuversichtlich, bei der Behandlung sowohl der Parkinson-Demenz als auch der Alzheimer-Demenz. Allerdings seien dafür noch weitere Studien notwendig.
Dos Santos Guilherme verwies auch auf die diagnostischen Möglichkeiten: „Zum einen können wir die Mikrobiota-Diagnostik nutzen, zum Beispiel die KyberBiom-Diagnostik, und des Weiteren die Darmschleimhaut-Diagnostik, das heißt Fettsäuren, Alpha-1-Antitrypsin, Calprotectin et cetera. Darüber können wir für eine stabile und gesunde Darmbarriere jetzt schon etwas tun.“